Samstag, 8. Mai 2010

Was suchen die Osmanen auf dem Balkan?

Ja, eine gute Frage, die wir da gestern im Seminar hatten. Und auch eine sehr interessante Diskussion, die sich im Plenum und in unserer Kleingruppe daraus entwickelt hat. Besonders die Frage nach der Bedeutung des religiösen Aspekts, also inwiefern man von einem Bekehrungsmotiv bei der Eroberung des Balkans sprechen kann, war hoch interessant. Stelle ich sie also mal in den Raum:

Haben wir es bei der Eroberung des Balkans durch die Osmanen eher mit einer machtpolitischen oder einer religiösen Expansion zu tun?

Für eine religiöse Expansion spricht zum einen die Tatsache, dass es ein koranisches Gebot zum dschihad gibt. Dabei soll der gläubige Muslim durch Bekämpfung der Nichtmuslimen Gott ehren und für seinen Ruhm streiten. Aus diesem grund dienten sich Angehörige der anatolischen Nachbarn den Osmanen als Kämpfer wider die Ungläubigen an. Zum anderen brachte eine Expansion im nichtmuslimischen Umfeld - und diese konnte nur nach Nordwesten auf den Balkanraum erfolgen - im Rahmen der dschizya eine beträchtliche Steuererhöhung für die Eroberer. Zudem ist eine sukzessive Islamisierung der eroberten Regionen sinnvoll, um die eigene Herrschaft abzusichern.

Aber, und das gebe ich zu bedenken: Warum hat der Islam dann nicht aggressiver versucht, die neu einzugliedernden Völker zu bekehren? Wie hoch kann der religiöse (eventuell religiös-ökonomische) Aspekt also bewertet werden, wenn der wichtigste Schritt - für mich die Konversion der neuen Untertanen - offensichtlich nicht im Vordergrund stand?

Der machtpolitische Ansatz dreht sich meiner Meinung nach vor allem um drei Säulen:

Zum einen war die Expansion auf den Balkan das Ausnutzen einer Schwäche der lokalen Staatsgebilde. Das restaurierte Byzantinische Reich war kein herausragender Machtfaktor mehr und verlor zunehmend an Einfluß. Bulgaren und Serben konkurrierten um das Erbe der Besitzungen der Byzantiner. Da liegt es nahe, auch den Osmanen - in unmittelbarer südlicher Nachbarschaft - dieses Ziel zuzuschreiben.

Zum zweiten kam die Bedrohung der Osmanen nicht mehr aus dem Norden, sondern aus dem Osten. Anders als Seldschuken und Mongolen stellten die Europäer zur Zeit der Expansion keine allzu große Gefahr mehr dar. Im Text zur gestrigen Sitzung wird sogar die These aufgestellt, dass nach dem Mongoleneinfall zu Beginn des 15. Jahrhunderts die europäischen Landbesitzungen ausschlaggebend für den Erhalt des Reiches waren. Es besteht also die Möglichkeit, dass die Osmanen sich bewusst nach Norden ausbreiten wollten, um den Gefahren aus dem Osten auszuweichen.

Die dritte Säule meiner Überlegung ist ein ökonomischer Faktor. Zwar ist das Ausgangsgebiet der Osmanen eine der fruchtbarsten Regionen Kleinasiens, doch für die Versorgung einer immer größer werdenden Armee konnte nicht (nur) auf die muslimischen Nachbarterritorien ausgegriffen werden, deren landwirtschaftlichen Potentiale geringer waren als - zum Beispiel - in Europa, auf dem Balkan. Um die wachsende Armee also zu unterhalten und gegen jedwede Bedrohung aus dem Osten zu stärken, bot sich die Expansion nach Norden an. Zudem bedingt eine zunehmende Zahl von Veteranen und verdienten Gefolgsleuten auf Basis des timar-Prinzips eine territoriale Expansion. Es entsteht meiner Meinung nach eine Expansionsnotwendigkeit, die man bei vielen Großreichen findet, egal zu welcher Zeit: Machtsicherung und -bewahrung bedingt territoriale Expansion!

Für mich ist daher das osmanische Ausgreifen auf Europa in erster Linie eine machtpolitische Unternehmung, die a) die Wirtschaftlichkeit des Reiches erhöht, b) die militärischen Kapazitäten erweitert, c) die strategische Situation gegenüber einer Bedrohung aus dem Osten verbessert und überhaupt: Sie ist das Ausnutzen feindlicher Schwäche!

In mittelalterlicher Perspektive ist es nur rational, sich auf Kosten des schwächsten Nachbarn zu verbessern, seinen eigenen Status aufzuwerten. Die Stoßrichtung der Osmanen konnte in meinen Augen also nur Europa sein! Erst in zweiter Linie kommen die religiösen Aspekte, die ich gar nicht marginalisieren möchte. Ich sehe sie durchaus als einen bedeutenden Faktor, aber eben nicht den entscheidenden Auslöser für die Expansion auf den Balkan.

Ein dritter Aspekt, den ich in die Runde werfen möchte, ist der kulturelle Anspruch auf die Nachfolge des Byzantinischen Reiches zur Aufwertung der eigenen Herrschaft. Im christlichen Europa ist es für jeden Fürsten ein Ziel, seine Herrschaft und seinen Stand unter den Herrschern mit einer Königskrone zu erhöhen. Hat er diese erst einmal erreicht, dann gibt es - zumindest für "deutsche" Könige - ein weiteres Ziel: Die Kaiserkrone Roms. Legitimation von Herrschaft und Erhöhung des eigenen Prestiges spielen also sicherlich auch eine Rolle. Als legitimer Nachfolger des römischen Kaisertums konnte sich der Sultan der Osmanen auf eine Stufe mit den europäischen Großmächten stellen und in der islamischen Welt das weltliche Gegenstück zum Kalifat bilden. Auch aus diesem Grund gab es nur eine Stoßrichtung für ein osmanisches Ausgreifen: Europa.

Und, damit sind wir wieder bei einer weiteren Frage unseres Seminars, es begründet auch zu einem Teil die Verlagerung der Hauptstadt des Osmanischen Reiches nach Konstantinopel/Istanbul. Der Sultan stellte sich damit in unmittelbare Sukzession des byzantinischen Kaisertums!

9 Kommentare:

  1. "Aber, und das gebe ich zu bedenken: Warum hat der Islam dann nicht aggressiver versucht, die neu einzugliedernden Völker zu bekehren?"

    Hier meine meinung dazu:
    was hätten die osmanen dadurch erreicht, indem sie alle "ungläubigen" mit gewalt konvertieren ließen? das einzige, was sie erreicht hätten, wäre mehr muslime in den volkszählungen gewesen. mehr aber nicht...

    ich glaub, es war schon eins ihrer ziele, die ungläubigen auf die eine oder andere weise zu "islamisieren". sie haben einfach andere mittel benutzt, die nicht so extrem sind/aussehen. solche mittel wie bestimmte privilegien, "freiheiten" usw. auf details gehe ich jetzt nicht ein.

    in dem sinne waren sie schlauer als die Bulgaren zum beispiel, die im 20.jh. die türkische bevölkerung so zu christianisieren versuchten. (s. diskussionsthema in der google-gruppe). das muss man zugeben!

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  2. außerdem, als was würdest du dann das "devşirme" bezeichnen?

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  3. Über diese Diskussionsfrage hab ich mir das Wochenende auch noch den Kopf zerbrochen - schön dass was in deinem Blog dazu geschrieben hast : )

    ich war ja auch erst der meinung, die osmanen sind vorallem aus machtpolitischen gründen immer weiter expandiert.
    mittlerweile bin ich mir bei den anfangsjahren nicht mehr so sicher...

    im späteren verlauf, den du hier ansprichst, mag der machtpolitische sicherlich der bedeutendere aspekt gewesen sein,
    aber spielt zu beginn des osmanischen reichs vll nicht doch die religion eine wichtige rolle?

    fragen, wie "wie sollen wir unsere truppenstärke ausbauen und genug land zur versorgung der bevölkerung bereitstellen?" ergeben sich doch erst aus der expansion...

    Ich denke, dass der Antrieb zur Expansion wahrscheinlich doch religiös motiviert war und zwar nicht in dem sinne, anderen völker zu unterwerfen und zwangs zu islamisieren, sondern im sinne des dschihads.

    was den späteren verlauf betrifft schließ ich mich deiner meinung an und glaube, dass der machtpolitische der wesentlichere der beiden faktoren war.

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  4. Ich wage mal zu behaupten, daß man erstmal klären sollte wie die Strukturen und Mentalitätsgeschichte im Osmanischen Reich war, bevor man geostrategisch anfängt zu interpretieren. Ansonsten bricht man Geschichte auf das Brettspiel "Risiko" herunter.
    Wenn man sich auf mittelalterliche Perspektiven beruft, dann ist auch zu klären ob das was uns "rational" erscheint überhaupt für die Personen rational war. Nimmt man z.b. Timur lenk, der obwohl über Bayezid gesiegt hatte, dennoch den Osmanen die Besitztümer und Verwaltung in den balkanischen Provinzen überließ. Nihct nur Timur definierte Expansion als Kampf gegen die Ungläubigen als raison d'être, sondern auch die Osmanische Elite. Die Frage, die sich dann stellt ist, inwieweit dieser Diskurs bis zu den letzten Schichten (insbesondere Krieger)durchgedrungen ist oder ob diese wenn a, Jihad beteiligt nicht auch aus anderen Motiven sich beteiligt haben.

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  5. @ Liliya

    Bitte nicht einzelne Sätze aus einer längerne Interpretation nehmen. Das führt meiner Meinung nach zu nichts! Ich möchte daher nicht explizit darauf eingehen.

    Ich bestreite ja gar nicht den religiösen Aspekt, im Gegenteil: Ich habe mal wikipedia konsultiert (zeitbedingt nichts anderes) und bin auf den Begriff "gazi" gestoßen. Laut wikipedia liegt daher in der frühen Phase ein ausgeprägt religiöser Aspekt vor und...

    @ Janina

    ... ich würde mich deiner Position anschließen, Janina. Zu Beginn war es offenbar - vorausgesetzt der Autor bei wikipedia hat Recht und Ahnung - eine ausgesprochen religiöse Expansion, die letztlich naturgemäß (!) auch in die Ausprägung machtpolitischer Aspekte führte.

    @ Luka

    Dann wage ich mal zu behaupten, dass deine Behauptung einen gewissen "historischen Nihilismus" (freie Wortschöpfung, ihr braucht nicht nachgucken) voraussetzt: Was wir nicht live und hautnah persönlich erleben, das kann man nicht beurteilen. Für mich als Historiker ist das natürlich ein Todesstoß, den du da gerade gesetzt hast.

    Aus dieser Problematik ergibt sich von mir die logische Antwort auf den zweiten Teil deines Beitrags: Wir sind nicht Timurlenk und waren nicht dabei, wissen nicht wie er dachte und können daher nicht wissen, was für ihn rational war - touché, je pense... :-)

    Worauf ich hinaus will: Es bringt uns nicht weiter, wenn wir auf verschiedenen Ebenen mit verschiedenen "Waffen" aneinander vorbeirreden.

    Meine Argumentation ist natürlich ohne umfassendes und tiefgreifendes Wissen, basierend auf meinen limitierten, als Historiker durchaus fachsubjektiven und persönlichen Interessensschwerpunkten und thematischen Perspektiven erstellt und demnach das, was im www oft rumläuft: Ein naiver Ideensplitter mit einem Hauch von faktischem Anspruch eines Laien, aber eben nur eine Nadel im osmanischen Heuhaufen.

    Ich hoffe du verzeihst mir meine Ironie und den vielleicht vorhandenen Sarkasmus (war gerade 14 Stunden arbeiten und kann das nicht mehr klar trennen), aber ich möchte nur die Problematik deutlich machen, der viele Wissenschaften unterliegen: Wir können uns nur immer einem Sachverhalt größtmöglich annähern - wir werden in nie zu 100% beschreiben und begreifen.

    Für die Geschichtswissenschaft ist deine Argumentation eine Existenzfrage, denn Geschichte ist immer nur die wahrscheinlichste und anhand der Quellen plausibelste Interpretration eines geschichtlichen Sachverhalts.

    Geschichte, so man sie als Erklärungsmuster zulässt, ist auf so vielen Ebenen zu beschreiben, dass eine gewissen Portion "Risiko" immer einer der ersten Ansätze ist, quasi die Makroebene. Von dieser Ebene verfeinert man seine Punkte, Kenntnisse und Ausführungen immer weiter auf verschiedenen Mikroebenen.

    Ich glaube aber nicht, dass dieses Mikroebenenmanagement in der aktuellen Blogform - ja nicht einmal im Seminar oder im Diskurs überhaupt!- realisierbar ist. Im Prinzip spielen wir alle "Risiko", auf jeweils verschiedenen Ebenen, mit jeweils verschiedenen Perspektiven und Ansätzen. Man muss alle zulassen können, um in unserem Kurs demnach überhaupt Ergebnisse zu produzieren.

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  6. Naja,

    solltest das nicht persönlich nehmen. ;-)

    Wenn dann wende ich mich gegen Historismus, dessen Wandel von der "Geschichte" der großen Männer zur Geschichte der (großen) Konflikte sich gewandelt hat und zudem von einem "bestimmten" Menschenbild und einer Machtdefinition verfälscht wird. Von daher kann auch von einem Todestoß (in den Rücken der Geschichte) nicht die Rede sein, wenn dann in den Rücken der Ereignisgeschichte. Eine existentielle Frage im Bezug auf Geschichte wäre, ob Geschichte nicht generell eine "konstruierte" Wissenschaft ist und dem Diktum der Schrift unterliegt.
    Wäre bestimmt nett daraufhin Jaques Derridas "Grammatologie" zu untersuchen.

    Das was Du mit "live und direkt" meinst, kann man so nicht stehen lassen und man würde der Annales Schule (F. Braudel), Kultur- / Sozialgeschichte (N. Elias)unrecht tun. Was jmd denkt kannst Du selbst nicht in einem Gespräch wissen, aber du kannst ein Gefühl für die Mentalität bekommen. Der Ansatz der Annalesschule "nouvelle histoire" untersucht eben dieses. Über Mentalitäten erfährt man aus den üblichen Quellen nur sehr wenig, deshalb ist die Erschließung neuer Quellengattungen für die Mentalitätsgeschichte typisch.(Quellen: Briefe,Tagebucheinträge,Porträts, etc.)
    Das soll nun nicht heissen, das Mentalitätsgeschichte das Erklärungsmuster par excellence bietet, denn sie selbst ist recht ungenau. Aber sie war für die Theoriebildung In den Geschichtswissenschaften extremst wichtig und hat auch mitunter zur Entstehung des Strukturalismus, der nebenbei gesagt im Bochumer Institut sehr groß geschrieben wird, beigetragen und geht in der Disziplin "Kulturgeschichte" auf.
    Mittelalterliche Perspektiven? Wo gab es denn das Mittelalter? Im Nahen Osten?

    Vom Makrokosmos zum Mikrokosmos, da läuft man Gefahr Geschichte nur auf Macht/Krieg zu reduzieren. Wird ja gern in der deutschen Geschichtswissenschaft gemacht. Was unsere Diskrepanz, die das Theoretische betrifft,angeht ,möchte ich dich gar nicht von deinem Weg abbringen oder diskreditieren, das sollte nur ein Anstoß sein evtl mal die Fühler nach anderen Perspektiven auszustrecken.

    Nicht nur Du hast begrenztes Wissen, das habe ich auch und wie jeder bei uns im Kurs.

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  7. Children of Boredom:
    "Wenn man sich auf mittelalterliche Perspektiven beruft, dann ist auch zu klären ob das was uns "rational" erscheint überhaupt für die Personen rational war."

    Dazu ein zitat von Erich Fromm, das mir sooo gut gefallen hat...

    "Ein so genannter gesunder Mensch kann je nach der jeweiligen Kultur etwas ganz verschiedenes bedeuten. Bei den Germanen hätte man unter einem "gesunden" Mann jemanden verstanden, der einer besonderen Wildheit fähig gewesen wäre. Derselbe Mann gälte heute als Psychopath."

    der Zeitgeist als Faktor..

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  8. ... und die Germanen sind auch heute noch sehr wild! :)

    ich steigen auf den begriff der mentalitätsgeschichte ein - hervorragender schlüssel - wie fühlte sich die frühe osmanische Elite (bis zur Zäsur durch Timur, wenn dies überhaupt eine war) - mich treibt seit einer woche dir frage um, inwiefern die Osmanen sich als verwobene nachbarn der Romaer fühlten ... vielleicht fühlten die sich ja in erster linie als sowas wie... was weiß ich ... Islamorömer!

    die expansion als "islamische" weltmacht mit mekka und medina und so, die kam doch erst viel später, auch das mit der übernahme des kalifats.

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  9. Was wurde passieren, wenn die Osmanen nicht in den Balkan einmarschiert wären....
    Ich glaube um „Osmanensöhne“ zu verstehen muss man einige Aspekte betrachten, Obwohl du in dem punkten die du äußert hast
    „Für mich ist daher das osmanische Ausgreifen auf Europa in erster Linie eine machtpolitische Unternehmung, die
    a) die Wirtschaftlichkeit des Reiches erhöht,
    b) die militärischen Kapazitäten erweitert,
    c) die strategische Situation gegenüber einer Bedrohung aus dem Osten verbessert…“
    Über all dem gibt es noch zwei „Punkte“ die wir betrachten müssen.
    1.„Ilayi kelimetullah“
    Osman Gazi hatte mal gesagt, das deren Bestreben nicht die Annektion anderer Länder ist, sondern Allah und den Islam zu verbreiten.
    2.„Goldene Apfel“
    Bei den Osmanen hatte der goldene Apfel hohe mythische Bedeutung und galt als Objekt allen Strebens und Glücks. Als Synonym wurde für noch nicht eroberte, jedoch zur Eroberung verlockende Ziele verwendet.
    Vor seiner Eroberung durch die Osmanen war die Bezeichnung Der goldene Apfel Synonym für die Stadt Konstantinopel. Nach seiner Eroberung und Umbenennung in Istanbul fiel dieses Attribut weg.
    Bis zur gescheiterten Belagerung wurde auch Wien als goldener Apfel bezeichnet.

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