Mittwoch, 28. April 2010

Geschichte des Balkans, Teil I: 4. - 7. Jahrhundert

Mit dem Ende des Weströmischen Reiches unter dem Druck der Germanischen Völkerwanderung veränderte sich die europäische Landkarte nachhaltig. In den ehemaligen römischen Provinzen kämpften germanische Stämme um die Vorherrschaft. Sweben, Westgoten, Burgunder, Franken, Wandalen, Ostgoten, Langobarden und viele kleinere Stammesgemeinschaften sicherten sich die vormals "zivilisierten" römischen Territorien in Westeuropa und in Nordafrika. Während sich das Oströmischen Reich auf dem Balkan gegen den Druck der einwandernden Stämme der Ost- und Westgoten sowie der hunnischen Gepiden stemmte, entstanden im Westen Europas zwei Großreiche, die sich aus der Erbmasse Westroms herausbildeten: Das Reich der (West-)Goten und das Reich der Franken.

Als 476 Odoaker, Anfüher der germanischen Skiren, Rom eroberte und mit Romulus Augustulus den letzten Kaiser Westroms absetzte, wurde seine Königsherrschaft über Italien von Ostrom nicht anerkannt. Der oströmische Kaiser Zeno gewann in Theoderich (später "der Große") einen Verbündeten gegen Odoaker, dem es 493 gelang Italien zurückzuerobern. Unter Zenos Nachfolger Anastasios wurde er als "König in kaisergleicher Stellung" anerkannt und konnte weite Teile des ehemaligen Weströmischen Reiches durch Krieg und Diplomatie einen: Ein Großteil der Iberischen Halbinsel, das südliche Burgund, Norditalien und der Alpenraum sowie das Drau-Save-Gebiet bis zur ehemaligen Reichsgrenze zwischen West und Ost standen somit kurzzeitig wieder unter römischer Hegemonie durch Ostroms Vasall Theoderich.

Als Theoderich der Große 526 starb, zerbrach sein mühsam errichtetes Staatskonstrukt jedoch rasch. Kaiser Justinian ergriff energisch die Gelegenheit der Nachfolgestreitigkeiten unter den germanischen Völkern, um das Römische Reich militärisch zu restaurieren. So gelangten Nordafrika und Teile des späteren Südspaniens, der Balkan und nicht zuletzt Italien erneut unter direkte oströmische Herrschaft. Aus Theoderichs Reich überdauerten nur die Westgoten als eigenständiges Territorium, während sich das Frankenreich neben Burgund auch das Alpenvorland und einen Zugang zum Mittelmeer in der Gegend um Marseille sicherte. Doch auch dieser letzte Ausgriff Roms auf die ehemaligen Kernterritorien war nicht von langer Dauer. Schon 568, kurz nach dem Tod Justinians 565, ging die Herrschaft über Italien an die Langobarden verloren und drängten Slawen, Awaren und Bulgaren auf den Balkan.


















Restauration des Römischen Reiches durch Justinian

Hier beginnen die dunklen Jahre, von denen wir im Seminar gesprochen haben. Es bietet sich an, hier für den Balkanraum eine Zäsur zu setzen, möglicherweise gar den Übergang von der Antike zum Mittelalter (siehe mein gestriger Beitrag). In den folgenden Jahrhunderten sollten vor allem zwei Völker massgeblichen Einfluß auf die Geschichte der Region nehmen: Bulgaren und Serben. Anfang des 6. Jahrhunderts begann die Landnahme der Bulgaren, die zuerst durch Raub- und Plünderungszüge, gegen Ende des Jahrhunderts aber auch in festen Ansiedlungen bis tief in die Peloponnes hinein erfolgte. Die Verteidigung des Oströmischen Reiches an der Donaugrenze brach zusammen und öffnete den Balkanraum auch für die Sklavenen, später dann für Kroaten und Serben.

Die slavische Landnahme ist in der Mitte des 7. Jahrhunderts abgeschlossen, für Ostrom der direkte Zugriff auf die Region verloren. In byzantinischen Quellen ist fortan die Rede von sogenannten Sklavinien: Gebiete slavischer Stammesgruppen ohne eigene Staatsorganisation. Die nördlichen dieser Sklavinien gerieten in den 80er Jahren des 7. Jahrhunderts unter die Herrschaft der Bulgaren, die kurz darauf als erster unabhängiger Staat auf byzantinischem Boden anerkannt wurden. Während also auf dem Balkan oströmische Provinzen an Slaven und Bulgaren verloren gingen, musste Byzanz auch im Osten territoriale Verluste hinnehmen. Die durch die Entstehung und Expansion des Islam geeinten arabischen Stämme eroberten große Teile des Reichsgebietes und brachten unter anderem Syrien, Ägypten und Palästina unter ihre Herrschaft. Macht und Einfluß des Oströmischen Reiches wurden dadurch auf Kleinasien limitiert.

Dienstag, 27. April 2010

Mittelalter - was'n das?

Die Frage nach der Bedeutung des Begriffs "Mittelalter" und die daraus folgende Ableitung, warum sich denn ein "mittleres Alter" in der Geschichte etabliert hat, ist eine Voraussetzung für das historische Verständnis dieser Epoche. Allgemein trägt das Mittelalter die Attribute dunkel, rückständig, dreckig u.v.m. Viele Menschen denken sofort an Ritter, Burgen, Turniere, Pest, Kirche und natürlich auch an Kreuzzüge. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern, keine Frage. Punktum: Das Mittelalter interessiert in der Regel keine Sau.

So ging es auch mir zu Beginn meines Studiums, doch mittlerweile bin ich da deutlich anderer Meinung. Wer unsere moderne Welt verstehen möchte, der kommt um das Mittelalter nicht herum. In ihm bildete sich unter Transformation und Weiterentwicklung des antiken Wissens die Grundlage unserer heutigen Gesellschaft. Natürlich sind viele Quellen und Informationen im Zuge der Völkerwanderung verloren gegangen. Schriftlichkeit war kein weit verbreitetes Attribut unter den einwandernden Slaven, Germanen und übrigen Stammesgruppen.

Für die Humanisten im 15. und 16. Jahrhundert stand daher der Versuch im Vordergrund, an das antike Erbe Europas anzuknüpfen, an Griechen und Römer sowie deren Wissen, Kultur, Anschauungen und Gesellschaftsformen. An die Stelle der bisherigen historischen Betrachtungsweise "vor Christus" und "nach Christus" rückte 1688 durch den Historiker Christopherus Cellarius aus Halle die Perspektive eines mittleren Zeitalters. Er teilte als erster Geschichtswissenschaftler bewusst in das Schema ein, das uns bis heute bekannt ist: Antike, Mittelalter, Neuzeit.

Die Renaissance des antiken Wissens gelang vornehmlich durch die starke kirchliche Durchdringung des spätrömischen Reiches und der fortschreitenden Christianisierungsbemühungen innerhalb der an die Stämme der Völkerwanderung "verlorenen" Gebiete. Wo staatliche Institutionen verloren gingen, blieb in der Regel die kirchliche Struktur erhalten oder konnte restauriert werden. Wo dem nicht so war blieb eine "stumme" Zeit zurück, dem das Mittelalter sein "dunkles" Attribut verdankt. So auch auf dem Balkan, der ja stets im Zentrum unserer Betrachtung steht.

Träger dieser Rückbesinnung auf die Antike war die gemeinsame Umgangssprache bzw. die Grundlage der romanischen Sprachen: Latein. Nur durch diese Sprache war es möglich, eine direkte Verbindung zur vormittelalterlichen römischen Welt herzustellen. Das griechische Element wird bei dieser Definition ausgeschlossen. Es wundert daher kaum, dass die Erforschung des Byzantinischen Reiches und des griechisch-sprachigen Südosteuropas in der Nachfolge des Öströmischen Reiches lange Zeit Teilgebiet der klassischen Philologie und nicht der historischen Mediävistik war. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Kulturtransfer wieder ein, konnten Querverbindungen gezogen werden und begann eine umfassendere Betrachtung der beiden parallelen europäischen Forschungsfäden.

Halten wir aber fest, dass der Begriff "Mittelalter" für das katholisch-lateinische Europa angepasst und daher für die Entwicklungen in Byzanz oder Osteuropa nur eingeschränkt als Epocheneingrenzung angemessen ist. Für das Byzantinische Reich endet die Antike quasi mit dem Ende ebendieses Machtkomplexes, ein Mittelalter lässt sich kaum abgrenzen. Auch die Geschichte Osteuropas, ganz zu Schweigen von den Historien anderer Kulturkreise, ist anders gegliedert. Unser Bezugrahmen für den Balkan ist daher erneut an einer schon bekannten Stelle angelangt: Der Balkan ist eine Grenzregion, in der osteuropäisch-byzantinische und katholisch-eurozentrische Geschichtsschreibung aufeinandertreffen, sich überlappen und gegenseitig beeinflussen.

Gehen wir den Schritt zurück zu unserem allgemein angewandten "Mittelalter"-Begriff. Einhergehend mit der Abkoppelung der Periodisierung von der Offenbarung Christi ergaben sich mehrere Möglichkeiten der mittelalterlichen Grenzen:

Stellt man das (katholische) Christentum als einheitliche Religion Europas in den Mittelpunkt, dann dauert das Mittelalter von seiner Legitimierung durch Konstantin den Großen 313 bis zur Reformation durch Martin Luther 1517.

Geht man bei der Begriffsbestimmung vom prägenden Dualismus Papst - König/Kaiser aus, dann lassen sich die Grenzen 476 mit dem Untergang des Weströmischen Reiches und 1494 mit dem Zug König Karls VIII. von Frankreich nach Rom ziehen.

Eine weitere Periodisierung basiert auf der Kontinentalgemeinschaft der romanisch-germanischen Völker im Anschluß an die antike Mittelmeerkultur. Ihr Beginn ist die arabische Expansion bis an das östliche Mittelmeer um 650, ihr Ende die Entdeckung Amerikas 1492, das einen neuen Bezugsrahmen setzte und z.B. mit der Entstehung von Kolonialmächten einen neuen historischen Akzent setzte.

Fernab von festen Daten versuchen Historiker auch, Transformationsübergänge zu definieren. Gemäß dieser Theorie handelt es sich nicht um feste "Termine", an denen sich Epochengrenzen festmachen lassen, sondern um zu definierende Übergangsprozesse, an deren Ende neue gesellschaftlich-kulturelle Epochen stehen.

Meine persönliche Meinung liegt irgendwo dazwischen. Ich meine, dass das Ende des Weströmischen Reiches als letztes Bollwerk gegen den Druck der Völkerwanderung die mittelalterliche Welt mehr beeinflusste, als das Toleranzedikt des Konstantin. Andererseits gebe ich dem religiösen Aspekt mehr Bedeutung am Ende "meines" Mittelalters, denn die Reformation ist für mich deutlich klarer als Endpunkt zu begründen, als die Entdeckung Amerikas. Aber wie gesehen gehen da die Meinungen auseinander.

Für unser Seminar bleibt die Feststellung, dass wir es auf dem Balkan mit einer Grenzregion zu tun haben, in der zum einen westliche und östliche Kultur, zum anderen Katholizismus und Orthodoxie, zum dritten Slaven und germanisch-romanische Urvölker in einem gemeinsamen Gebiet aufeinandertreffen. Frei nach Huntington haben wir es hier schon früh mit einem ersten "Clash of Cultures" zu tun, der schon weit vor dem zweiten - der Eroberung des Balkans durch das muslimische Osmanische Reich - stattfand.

In den kommenden Blogs werde ich versuchen, euch in loser Folge die kontroverse und zum Teil unübersichtliche Geschichte des Balkans näher zu bringen.

Montag, 26. April 2010

Gehört die Türkei zum Balkan?

"Für Abdullah Gül reicht der Balkan bis in die Türkei. Der türkische
Präsident sah es nicht ein, warum der westeuropäische Unmut über eine
mögliche EU-Mitgliedschaft seines Landes so viel größer ist als über
einen Beitritt der Balkanstaaten. "Auch wir sind der Balkan", erklärte
er noch als Außenminister."
Politisches Kalkül oder ehrliche Überzeugung? Eine persönliche Meinung oder eine weit verbreitete Ansicht in der Türkei? Nun, zu letzterem Punkt habe ich in einer kleinen Internetrecherche nichts gefunden. Es mag durchaus Menschen in der Türkei geben, die sich dem Balkan angehörig fühlen. Gerade für die so genannte "Europäische Türkei", die geographisch mit Sicherheit zum Balkan gehört, dürfte man diesen Faktor aufgrund des engen kulturellen Austausches in Betracht ziehen. Nimmt man eben diesen kulturellen Faktor, dann kommt man fast nicht umhin, den Balkanbegriff zu erweitern auf mindestens den Großraum Istanbul und Teile der nördlichen Türkei, aber auch um Italien, Ungarn und Rumänien.

Bleiben wir daher lieber beim geographischen Aspekt und bestätigen zumindest einem Teil der Türkei die Teilhabe am Balkan. Historisch, das ist klar, kann man die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches ohnehin nicht vom Balkan wegdenken. Von daher macht die Aussage Güls durchaus Sinn. Ich denke wir haben hier ein ähnliches Problem wie mit der Frage, ob Russland oder die Türkei noch zu Europa gehören. In einer Seminararbeit habe ich folgendes herausgearbeitet, was uns wieder zu GRENZen, AbGRENZungen und EinGRENZungen führen wird:
In der Wissenschaft hat sich durch die Aufhebung der Ost-West-Binnengliederung Europas mit der Auflösung des sowjetischen Einflussbereichs 1989/1990 der Blick weiter an die östliche Peripherie des Kontinents verlagert. Daher stehen im wissenschaftlichen Diskurs derzeit drei verschiedene Modelle zur Eingrenzung des Begriffs „Europa“ zur Diskussion: Eine enge Grenzziehung nimmt nur West- und Ostmitteleuropa in ihre Perspektive auf. Eine erweiterte Sichtweise integriert sämtliche Staaten Europas in ihre Betrachtung, grenzt jedoch Russland, die Türkei und den Kaukasus aus. Das dritte Modell der wissenschaftlichen Europadefinitionen erweitert schließlich die beiden engeren Eingrenzungen um die drei genannten, zuvor ausgeklammerten Staaten und Regionen.

Gehört die Türkei also zum Balkan? Jein. Es ist immer eine Frage der Sichtweise. Für mich ist die Türkei ein europäischer Staat, nicht nur, weil sie in der UEFA gemeldet ist und am Eurovision Song Contest teilnimmt. Historisch, kulturell und auch religiös hat sie derart viele Bindungen zu Europa, dass man fast behaupten könnte (das entzieht sich meiner Kenntnis) sie hätte weitaus weniger Bindungen an Irak, Iran, Jordanien usw. De facto gehörte die Türkei als NATO-Staat nie zur Arabischen Allianz gegen Israel und beteiligt sich an den amerikanischen Kriegsbemühungen gegen die "Achse des Bösen" - also auch gegen Glaubensbrüder und - schwestern. Ist dem wirklich so? Denkt und fühlt die Türkei eher europäisch als arabisch?

Zumindest liegt das Land jeweils peripher: Im äussersten Südosten Europas, im Westen Asiens. Politisch scheint durch den angestrebten EU-Beitritt und die NATO-Mitgliedschaft eine Entscheidung zu Gunsten Europas getroffen zu sein. Historisch gehört die Türkei ohnehin eng in die europäische Welt hinein (mehr dazu noch in einem weiteren Blog zur letzten Veranstaltung zum Thema Periodisierung Antike-Mittelalter-Neuzeit). Auch die Kultur Europas, gerade auf dem Balkan, ist durch diese gemeinsame Vergangenheit geprägt. Wie auch immer Gül seine Aussage gemeint hat: Die Türkei gehört in vielerlei Hinsicht zu Europa, also soll sie auch - so die bekannten Probleme des Beitritts formell gelöst sind - meiner Meinung nach der EU beitreten.

Im Balkanforum fasste User Hajduk Mihat Tomic (übrigens ein interessanter Nickname) das ganze schön zusammen:
Natürlich sind sie Kulturell Balkaner oder freßen wir nicht alle pita, baklava, börek und haben Türkische Wörter.

Eigentlich sind wir mehr Türken, als Türken Balkaner.
Aber dadurch sind auch die Türken ein stückchen Balkaner.
Dem kann ich mich vorerst nur anschließen und freue mich auf eure Reaktionen!

Dienstag, 20. April 2010

Wo bitte liegt - und was ist der "Balkan"?

Da ich hier ja nur blogge und das nunmal nicht hochwissenschaftlich ist, kann ich sicherlich beruhigt ein längeres Stück eines gerade gefundenen Artikels von Wolf Oschlies aus dem Eurasischen Magazin, Ausgabe 4/2006 zitieren, das einen weiteren Einblick in die Begriffsgeschichte und vor allem dessen Unklarheit bringen kann. Mir persönlich hat vor allem der erste Teil gefallen, während ich im weiteren Verlauf nicht mehr jeden Gedankengang teilen kann. Hier wie erwähnt ein Ausschnitt, den gesamten Artikel findet ihr hier: Klick mich.
__________________________________________________

Die Szene ist unvergessen: Der slowenische Staatspräsident Milan Kucan tritt ans Rednerpult und sagt: „Slowenien liegt nicht auf dem Balkan…“ Auf den Gesichtern der vielen Zuhörer breitet sich ein Lächeln aus, aber kein wohlmeinendes – eher eines von der Art: „Lerne Geographie, du Narr“. Der ebenfalls anwesende makedonische Staatspräsident Kiro Gligorov nutzte seine Chance, als er an der Reihe war und begann so: „Makedonien liegt nicht nur auf dem Balkan – es ist das Herz des Balkans!“ Weiter kam er erst einmal nicht, denn stürmischer Szenenapplaus zwang ihn zu einer längeren Pause.

Das war im März 1993 vor dem hochkarätigen Forum „Europäischer Dialog“. Es fand in Bonn statt, das damals noch Bundeshauptstadt war. Moderator der Gespräche war Peter Glotz. Doch es gibt heute nicht weniger Verwirrung, wenn vom Balkan die Rede ist. Wo bitte liegt und was ist der Balkan? – Viele Zeitgenossen sind darüber nur wenig im Bilde.

"Nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert"

Die Region Balkan könnte die wärmste, anregendste, bunteste und klangvollste Europas sein. In Wahrheit aber gilt sie als das Gegenteil dieser Eigenschaften, und das schon seit geraumer Zeit: „Der ganze Balkan“, soll Bismarck am 5. Dezember 1876 im Reichstag gedonnert haben, „ist mir nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert“. Eugen Richter, Abgeordneter der Deutschen Fortschrittspartei, hatte den „Eisernen Kanzler“ zu diesem Ausfall gereizt, der seither immer wieder zitiert wird. Tatsächlich gebrauchte Bismarck den Ausdruck „Balkan“ nicht ausdrücklich, weil der so „jung“ war, dass er sich noch nicht allenthalben herumgesprochen hatte.

„Balkan“ bezeichnet in der türkischen Sprache einen „bewaldeten Höhenrücken“, also eine sehr passende Bezeichnung für jenes Gebirge, das die antiken Griechen „Haemus“ nannten und die Bulgaren immer noch „Stara Planina“ (Alter Berg) nennen, beispielsweise in der ersten Zeile ihrer Nationalhymne. Der Berliner Blindenlehrer und Geograph Johann August Zeune (1778-1853) begründete 1808 den Usus, die südosteuropäsche Halbinsel nach ihrem größten Gebirge zu benennen.

Was im Falle Italiens als „Apennin-Halbinsel“ bereits die Norm war, wiederholte sich nun im europäischen Südosten, gefördert vor allem durch die Bücher des deutschen Ethnographen und Illustrators Felix Kanitz (1829-1904). Vermutlich ohne Absicht des Autors etablierte sein monumentales Werk „Donau-Bulgarien und der Balkan“ die seither übliche Benennung der Region, wobei die Auswahl des türkischen Gebirgsnamens dem Umstand Rechnung trug, daß fast der ganze „Balkan“ seit Jahrhunderten unter osmanischer Herrschaft war. Bulgarien beispielsweise war seit 1393 unter diesem „Joch“, von dem es erst im Gefolge des Russisch-Türkischen Krieges 1877/78 freikam – den die Russen glänzend verloren hätten, wären ihnen nicht Kanitz’ Karten und bulgarische Freiwillige zu Hilfe gekommen. Der „Balkan“ war ein Begriff geworden!

So „griffig“ die Benennung ist, so vage ist sie auch: Kaum jemand hat es jemals gewagt, den Balkan exakt zu definieren oder gar in Quadratkilometern auszumessen. Für den Namensgeber Zeune umfasste der Balkan lediglich Albanien, Bulgarien, Makedonien und Griechenland, was nur scheinbar präzise ist: Die solchermaßen benannten Staaten entstanden erst Jahrzehnte später und bis dahin war es europäische Konvention, historische Landesnamen auch auf jene Teile des Osmanischen Imperiums anzuwenden, die von den Türken integral als Rumelien geführt wurden.

Wo fängt der Balkan an, auf gewissen Straßen der Wiener Innenstadt oder in Harburg?

Diese balkanische Desorientierung bestand zu allen Zeiten und war oftmals Anlass zu mehr oder minder humorigen Standortbestimmungen. Schon zu Zeiten des Fürsten Metternich (1773-1859) wurde der „Anfang“ des Balkans auf gewisse Straßen der Wiener Innenstadt verlegt. Vor dreißig Jahren lauschte alles den witzigen Liedern der „Hamburger Szene“, deren eines den Refrain hatte „In Harburg fängt der Balkan an“. Harburg ist der südelbische Vorort von Hamburg. Südlich Wiens, in Slowenien und Kroatien, ist ausgesprochen riskant, diese Länder zum „Balkan“ zu zählen. Und wer gar den herostratischen Mut aufbrächte, in Ungarn den Landesnamen und „Balkan“ in einem Satz zu vereinen, der hätte augenblicklich ganze Auditorien gegen sich aufgebracht. Offenkundig will nicht jeder zu der Region gehören, deren Grenzen ein geistvoller Soziologe aus Belgrad 1972 so bestimmte: „Der Balkan beginnt dort, wo die Toiletten der internationalen Züge eine Stunde nach Grenzübertritt zum Davonlaufen aussehen“.

Warum Balkan-Namensgeber Zeune gewisse Gebiete nicht zum Balkan gezählt hatte, war schon seinen Zeitgenossen unklar und kann bis heute nur vermutet werden – vielleicht weil Montenegro nie völlig von den Osmanen erobert worden war und weil in Serbien seit 1804 Aufstände tobten, die das Land mehr und mehr aus dem Imperium lösten. Die 400 oder (je nach Land) gar 500 Jahre osmanischer Fremdherrschaft waren nach den Worten des jugoslawischen Literatur-Nobelpreisträgers Ivo Andric (1892-1975) auch die „Periode einer wunderbaren Ruhe“, was ja stimmt, wenn man sich erinnert, wie viele Kriege, Revolutionen, Unglücke, Epidemien etc. in derselben Zeit im restlichen Europa abliefen. Nur die Aufstände, die nacheinander alle balkanischen Völker gegen die fremden Herren anzettelten, machten dieser Ruhe ein jähes Ende. Das war nicht so sehr die Schuld der „Balkanesen“ selber, sondern importierter Hader. [...]

Eine Region ohne Definition

Weiterhin bin ich auf der Suche nach einer ordentlichen Eingrenzung unseres Leitbegriffes "Balkan". Beim googlen stößt man neben Wikipedia auch auf andere Definitionen. Unter www.politik.de findet sich im Forum eine durchaus heftige Debatte über eine Eingrenzung des Begriffes. Ein längeres Zitat aus dem Beitrag des Threaderstellers CapoeraZ möchte ich mal beifügen:
"Der Balkan als Gebirge reicht vom Schwarzen Meer bis nach Serbien", lautet die Auskunft vom Institut für Geographie und Regionalforschung an der Universität Wien auf Anfrage der "Wiener Zeitung". Die Balkan-Halbinsel hingegen wird mit dem Bereich südlich der Flüsse Save und Drau beschrieben. Da zählen dann nicht nur die ex-jugoslawischen Staaten und Albanien, sondern auch Griechenland und der europäische Teil der Türkei. Zu den Balkanstaaten im engeren Sinn gehören Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro, Mazedonien und außerdem Albanien. Bei der häufig synonymen Verwendung der Begriffe Balkan und Süd-Ost-Europa gibt es allerdings Ungereimtheiten, denn zu den Balkanstaaten im weiteren Sinne gehören auch Rumänien und Bulgarien (immerhin ist dort das namengebende Gebirge). Zu Südosteuropa werden manchmal aber auch Griechenland und der europäische Teil der Türkei gezählt. Allerdings wird auch von Seiten des Universitätsinstituts betont, dass es keine einheitliche Definition gibt.
Geographisch bekommt also Wikipedia Recht, rein nationalpolitisch wird meine am Samstag im letzten Beitrag umrissene Balkandefinition bestätigt. Aber entscheidend scheint mir der letzte Satz, nämlich dass es keine einheitliche Definition gibt. Das hat "Balkan" dann im übrigen mit "Religion" gemeinsam und es findet sich darüber eine interessante Verknüpfung zum zweiten Themenschwerpunkt "Islam".

Aber bleiben wir vorerst noch beim "Balkan". Die im Forum entstandene Debatte dreht sich in der Folge um verschiedene Raum- und Zeitkonzepte, die den "Balkan" definieren können: Natürliche Grenzen, Geographie, Geschichte, Vegetation und viele mehr. Jeder dieser Blickwinkel definiert unseren Begriff neu. Mir scheint, als dass wir uns auf zwei Eingrenzungen beschränken müssen, die sich für unser Thema am besten eignen: Geschichte und Religion.


Folgen wir diesem Weg bringt die Diskussion eine weitere Variante ins Spiel. "Balkan" ist demnach das Gebiet Europas, welches über einen längeren Zeitraum hinweg unter muslimischer Herrschaft stand. User cogito bekommt also auch ein Zitat:
Österreich, Ungarn, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien-Montenegro, Mazedonien, Albanien, Rumänien, Moldawien, Bulgarien, Griechenland, Zypern, Ukraine, Armenien, Georgien, Russland (im Kaukasus) und eventuell noch die Türkei selbst (zumindest der europäische Teil) und Aserbaidschan (ebenfalls europäisches Land!?, andererseits sind die Aseris doch ein Turkvolk, oder irre ich mich?). Slowenien wäre tatsächlich kein Balkanland.

Übrigens, unter gebildeten Serben (prominentes Beispiel: Vojislav Kostunica) ist genau diese Definition gebräuchlich.
Historisch ist diese Einteilung natürlich legitim, jedoch hat auch sie in meinen Augen ein Problem: Sie berücksichtigt nicht die Intensität einer muslimischen Herrschaft. Einige genannten Regionen standen nur kurz, andere wiederum sehr lange unter Einfluß des Osmanischen Reiches. Hinzu kommt in großen Reichen immer die Situation "reichsnaher" und "reichsferner" Gebiete. Der Grad der Durchdringung - auch in religiöser Hinsicht, um die zweite Ebene unseres Themas einzubinden - der angetroffenen Kultur und die Möglichkeit weitgehend eigenständiger Herrschaftsausübung und Kulturentwicklung, z.B. als tributpflichtiger Staat ohne administrative und konfessionelle Restriktionen, werden hier nicht berücksichtigt.

Interessant ist die Ausgrenzung Sloweniens und der Verweis auf Serbien. Hier kommt Stefans Kommentar zu meinem letzten Beitrag in die Suche nach einer Definition. Er verwies auf die Möglichkeit einer Begriffsdefinition in Abgrenzung zu etwas anderem. In der Tat scheint, wie schon im Vorpost erwähnt, keine Nation so richtig zum Balkan gehören zu wollen. Für die Italiener und Österreicher beginnt der Balkan in Slowenen, für diese wiederum in Kroatien, für die Kroaten und Serben im Kosovo usw. Alle, gerade die christlich geprägten Staaten, nehmen oft für sich in Anspruch, dass sie die europäisch-christliche Zivilisation gegen die anstürmenden "Ungläubigen" verteidigt haben und das oftmals in ideologischer Selbstzuschreibung noch tun.

Einen schönen Schlußpunkt bringt User Midia in die Debatte unter www.politik.de, bevor das Thema abgleitet. Er zitiert den slowenischen Philosophen und Kulturkritiker Slavoj Žižek (*1949) zu genau diesem Thema (das sich meiner Meinung nach sehr schön für eine Hausarbeit eignet):

Der Balkan ist also immer der Andere, er liegt irgendwo anders, immer ein wenig weiter im Südosten, und in diesen Zusammenhang gehört auch das Paradox, dass wir am unteren Ende der Balkanhalbinsel dem Balkan wieder auf wundersame Weise entkommen sind (da Griechenland eigentlich nicht mehr richtig dazugehört, sondern die Wiege unserer westlichen Zivilisation darstellt).
In der Tat eine paradoxe Situation: Jedes Volk schiebt offenbar seinen jeweils südlich bzw. südöstlichen Nachbarn die Rolle der "Barbaren" und "Bedroher der europäischen Kultur" zu, bis dann am Ende Griechenland als Ursprung jeglicher europäisch-westlicher Kultur den Widerspruch auflöst.

Ovo je balkan?
Gibt es ihn überhaupt?

Wir bleiben dran!

Samstag, 17. April 2010

Balkan - was'n das?

Wenn man sich mit einem Gegenstand beschäftigt, dann liegt es - vor allem aus wissenschaftlicher Sicht - nahe, sich zuerst einmal klar zu machen, über was man eigentlich redet. Unsere Seminarschlagwörter sind "Islam" und "Balkan". Während ersterer Begriff noch nahezu selbsterklärend ist - ich bezweifle, dass irgendwer in unseren Breitengraden den Islam nicht sofort als eine prägende Religion weiter Teile des Erdballs erkennen würde - stellt die Frage nach der Verortung des Begriffs "Balkan" viele Mitmenschen schon vor eine höhere Hürde.

Seinen Namen erhielt unser Themenschwerpunkt "Balkan" durch das Balkan-Gebirge in Nord-Bulgarien. Wie auf der Karte zu erkennen ist, grenzt dann die Donau die Region von Rumänien ab. Ab hier unterscheiden sich dann meine Ansicht von Balkan und die von Wikipedia. Während das Online-Lexikon weite Teile Serbiens, Kroatiens und Sloweniens ausklammert, würde ich die Nordgrenze des Balkanraumes entlang der heutigen Grenzen Rumäniens, Ungarns, Österreichs und Italiens ziehen. Die verlinkte Karte folgt dagegen, wie in der Anmerkung im unteren Teil vermerkt, einer geographischen Gebirgsgrenze.

Natürlich ist das legitim und in grauer Vorzeit waren Gebirge wirkliche Hindernisse für kulturellen Austausch zwischen verschiedenen Völkern, aber in historischer Zeit ist für mich diese Eingrenzung nicht plausibel. Eher würde ich den Balkan nach Besiedlungsgruppen und heimischen Völkerschaften, nach nationalstaatlichen Gebilden und weltpolitischen Zugehörigkeiten definieren - und das lässt mich meine persönliche Balkandefinition wieder aufgreifen.

Doch zählen sich Kroaten oder Slowenien aufgrund ihrer katholischen Konfession und ihrer langjährigen Geschichte als Provinzen des Habsburgerreiches eher zu Mitteleuropa, Griechenland bezeichnet sich selbst als südeuropäisches Land, Serbien sieht sich historisch sowieso unabhänig und eigenständig als potentielle Hegemonialmacht der Region - worauf ich hinaus will: Der "Balkan" ist eine umstrittene geographische Bezugsgröße, ein Begriff zur Untergliederung Europas ähnlich wie "Skandinavien" oder "Benelux". Nur irgendwie will scheinbar keiner so richtig dazu gehören!

Woran liegt das? Ich werde darauf zurückkommen! Jedenfalls scheint mein Fokus auf die Eingrenzung der Region noch nicht fein genug eingestellt, das schreit nahezu nach einer genaueren Betrachtung. :-)

Freitag, 16. April 2010

Zdravo...

... und Willkommen bei meinem Semester begleitenden Blog!

Ich gebe zu, dass mich diese Aufgabe etwas überrascht hat. Eine deartige Form kannte ich in Stefans Seminaren noch nicht. Ach, was rede ich: Ich kannte es mit Bezug auf die Uni noch gar nicht! Jedoch reizt mich diese Art der literarischen Begleitung des Seminars, da ich schon öfter mit dem Gedanken gespielt habe, ein ähnliches Projekt anzugehen. Das hier hat zwar wenig mit Eishockey oder meinen privaten Gedanken zu tun - keine Ahnung, ob diesen geistigen Unfug überhaupt wer hätte lesen wollen - aber für einen Einblick in das Bloggen wird es sicherlich spannend und spassig!

In dem Sinne: Hajde!