Dienstag, 27. April 2010

Mittelalter - was'n das?

Die Frage nach der Bedeutung des Begriffs "Mittelalter" und die daraus folgende Ableitung, warum sich denn ein "mittleres Alter" in der Geschichte etabliert hat, ist eine Voraussetzung für das historische Verständnis dieser Epoche. Allgemein trägt das Mittelalter die Attribute dunkel, rückständig, dreckig u.v.m. Viele Menschen denken sofort an Ritter, Burgen, Turniere, Pest, Kirche und natürlich auch an Kreuzzüge. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern, keine Frage. Punktum: Das Mittelalter interessiert in der Regel keine Sau.

So ging es auch mir zu Beginn meines Studiums, doch mittlerweile bin ich da deutlich anderer Meinung. Wer unsere moderne Welt verstehen möchte, der kommt um das Mittelalter nicht herum. In ihm bildete sich unter Transformation und Weiterentwicklung des antiken Wissens die Grundlage unserer heutigen Gesellschaft. Natürlich sind viele Quellen und Informationen im Zuge der Völkerwanderung verloren gegangen. Schriftlichkeit war kein weit verbreitetes Attribut unter den einwandernden Slaven, Germanen und übrigen Stammesgruppen.

Für die Humanisten im 15. und 16. Jahrhundert stand daher der Versuch im Vordergrund, an das antike Erbe Europas anzuknüpfen, an Griechen und Römer sowie deren Wissen, Kultur, Anschauungen und Gesellschaftsformen. An die Stelle der bisherigen historischen Betrachtungsweise "vor Christus" und "nach Christus" rückte 1688 durch den Historiker Christopherus Cellarius aus Halle die Perspektive eines mittleren Zeitalters. Er teilte als erster Geschichtswissenschaftler bewusst in das Schema ein, das uns bis heute bekannt ist: Antike, Mittelalter, Neuzeit.

Die Renaissance des antiken Wissens gelang vornehmlich durch die starke kirchliche Durchdringung des spätrömischen Reiches und der fortschreitenden Christianisierungsbemühungen innerhalb der an die Stämme der Völkerwanderung "verlorenen" Gebiete. Wo staatliche Institutionen verloren gingen, blieb in der Regel die kirchliche Struktur erhalten oder konnte restauriert werden. Wo dem nicht so war blieb eine "stumme" Zeit zurück, dem das Mittelalter sein "dunkles" Attribut verdankt. So auch auf dem Balkan, der ja stets im Zentrum unserer Betrachtung steht.

Träger dieser Rückbesinnung auf die Antike war die gemeinsame Umgangssprache bzw. die Grundlage der romanischen Sprachen: Latein. Nur durch diese Sprache war es möglich, eine direkte Verbindung zur vormittelalterlichen römischen Welt herzustellen. Das griechische Element wird bei dieser Definition ausgeschlossen. Es wundert daher kaum, dass die Erforschung des Byzantinischen Reiches und des griechisch-sprachigen Südosteuropas in der Nachfolge des Öströmischen Reiches lange Zeit Teilgebiet der klassischen Philologie und nicht der historischen Mediävistik war. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Kulturtransfer wieder ein, konnten Querverbindungen gezogen werden und begann eine umfassendere Betrachtung der beiden parallelen europäischen Forschungsfäden.

Halten wir aber fest, dass der Begriff "Mittelalter" für das katholisch-lateinische Europa angepasst und daher für die Entwicklungen in Byzanz oder Osteuropa nur eingeschränkt als Epocheneingrenzung angemessen ist. Für das Byzantinische Reich endet die Antike quasi mit dem Ende ebendieses Machtkomplexes, ein Mittelalter lässt sich kaum abgrenzen. Auch die Geschichte Osteuropas, ganz zu Schweigen von den Historien anderer Kulturkreise, ist anders gegliedert. Unser Bezugrahmen für den Balkan ist daher erneut an einer schon bekannten Stelle angelangt: Der Balkan ist eine Grenzregion, in der osteuropäisch-byzantinische und katholisch-eurozentrische Geschichtsschreibung aufeinandertreffen, sich überlappen und gegenseitig beeinflussen.

Gehen wir den Schritt zurück zu unserem allgemein angewandten "Mittelalter"-Begriff. Einhergehend mit der Abkoppelung der Periodisierung von der Offenbarung Christi ergaben sich mehrere Möglichkeiten der mittelalterlichen Grenzen:

Stellt man das (katholische) Christentum als einheitliche Religion Europas in den Mittelpunkt, dann dauert das Mittelalter von seiner Legitimierung durch Konstantin den Großen 313 bis zur Reformation durch Martin Luther 1517.

Geht man bei der Begriffsbestimmung vom prägenden Dualismus Papst - König/Kaiser aus, dann lassen sich die Grenzen 476 mit dem Untergang des Weströmischen Reiches und 1494 mit dem Zug König Karls VIII. von Frankreich nach Rom ziehen.

Eine weitere Periodisierung basiert auf der Kontinentalgemeinschaft der romanisch-germanischen Völker im Anschluß an die antike Mittelmeerkultur. Ihr Beginn ist die arabische Expansion bis an das östliche Mittelmeer um 650, ihr Ende die Entdeckung Amerikas 1492, das einen neuen Bezugsrahmen setzte und z.B. mit der Entstehung von Kolonialmächten einen neuen historischen Akzent setzte.

Fernab von festen Daten versuchen Historiker auch, Transformationsübergänge zu definieren. Gemäß dieser Theorie handelt es sich nicht um feste "Termine", an denen sich Epochengrenzen festmachen lassen, sondern um zu definierende Übergangsprozesse, an deren Ende neue gesellschaftlich-kulturelle Epochen stehen.

Meine persönliche Meinung liegt irgendwo dazwischen. Ich meine, dass das Ende des Weströmischen Reiches als letztes Bollwerk gegen den Druck der Völkerwanderung die mittelalterliche Welt mehr beeinflusste, als das Toleranzedikt des Konstantin. Andererseits gebe ich dem religiösen Aspekt mehr Bedeutung am Ende "meines" Mittelalters, denn die Reformation ist für mich deutlich klarer als Endpunkt zu begründen, als die Entdeckung Amerikas. Aber wie gesehen gehen da die Meinungen auseinander.

Für unser Seminar bleibt die Feststellung, dass wir es auf dem Balkan mit einer Grenzregion zu tun haben, in der zum einen westliche und östliche Kultur, zum anderen Katholizismus und Orthodoxie, zum dritten Slaven und germanisch-romanische Urvölker in einem gemeinsamen Gebiet aufeinandertreffen. Frei nach Huntington haben wir es hier schon früh mit einem ersten "Clash of Cultures" zu tun, der schon weit vor dem zweiten - der Eroberung des Balkans durch das muslimische Osmanische Reich - stattfand.

In den kommenden Blogs werde ich versuchen, euch in loser Folge die kontroverse und zum Teil unübersichtliche Geschichte des Balkans näher zu bringen.

1 Kommentar:

  1. du schreibst:
    "Die Renaissance des antiken Wissens gelang vornehmlich durch die starke
    kirchliche Durchdringung des spätrömischen Reiches
    und der fortschreitenden Christianisierungsbemühungen
    innerhalb der an die Stämme der Völkerwanderung "verlorenen" Gebiete."
    ich bin hier verwirrt! War nicht die Renaissance auch eine Bewegung von der
    Kirche weg?

    Mir scheint immer mehr, dass die Erfindung des Mittelalters ein wichtiger Baustein
    hin zu einer Abgrenzung eines neuen Europa-Begriffs war; mittelbar folgt dann
    der Balkan in seiner Fremdbezeichnung als GRENZE! (man halte ihn uns vom leibe!
    lass uns eine grenze ziehen zu den wilden!!! :)

    du schreibst:
    "Für unser Seminar bleibt die Feststellung, dass wir es auf dem Balkan mit einer
    Grenzregion zu tun haben"

    ...und dies ist eine Fremdzuschreibung, die in relativer Abhängkeit steht zu den
    anderen Bausteinen. Dass du hier Huntington ins Spiel bringst, ist (aus deiner
    Argumentation) folgerichtig. Ich möchte es als eine Spielart akademischen
    Kolonialdenkens kritisieren, indem die Grenze zuerst erfunden wird und dann
    z.B. an ihrer religiösen, kulturellen (was weiß ich sonst noch) heterodoxität
    "bewiesen" wird, wobei "verschwiegen" wird, dass das nur funktioniert, wenn
    das vermeintlich homogene als der Grenze überlegen vorausgesetzt wird!

    Kolonialdiskurs! :) das wäre auch was im letzten Semester gewesen! :)

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