Freitag, 11. Juni 2010

Stadt und Staat - eine Theorie

Bei den nachfolgenden Überlegungen möchte ich mich möglichst unabhängig von Fachliteratur oder offiziellen Theorien bewegen und einfach mal meine Gedanken zu dem Thema sortieren. Daher werde ich einiges an Angriffsfläche bieten und hoffe, dass ihr einige der Fäden am Ende aufnehmt und uns die Diskussion letztlich vielleicht sogar weiterhilft. Meine These, die heute von Stefan ja bereits aufgenommen wurde, lautet also:

Die Ausprägung von Staatlichkeit setzt die Existenz von Städten voraus

Ohne gleich zu Beginn der Menschheitsgeschichte einsteigen zu müssen setze ich voraus, dass sich aus Nomaden nach und nach sesshafte Familienverbände, Stämme oder Völker entwickelten. Die dadurch entstehenden dauerhaften Siedlungen im Übergang von Jäger-und-Sammler-Kulturen zu Vieh- und Landwirtschaft betreibenden Kulturen sind meiner Kenntnis nach unumstritten. Orte zur dauerhaften Ansiedlung waren naturgemäß Fluß- und Küstengebiete mit fruchtbarem Land. Diese sogenannten Flußkulturen spielten auch eine Rolle in der Ausprägung erster Religionen, aber das soll hier nun nicht das Thema sein und ich werde den religiösen Aspekt auch weiterhin größtenteils aussen vor lassen.

Wo sich Menschen niederlassen, da entstehen Versorgungsnotwendigkeiten: Saatgut, Werkzeuge, Nahrung usw. sind nicht immer und überall ausreichend vorhanden, zum Teil sind die entstehenden Dorfgemeinschaften auf Jäger und Sammler, aber auch auf Nachbarortschaften angewiesen. Worauf ich hinaus will: Es entsteht Handel, aus der reinen Subsistenzwirtschaft wird im Laufe der Zeit eine differenziertere Gesellschaft mit Arbeitsteilung und Spezialisierung. Städte an wichtigen Wasser- und Landwegen werden zu Handelsknotenpunkten, an denen sich zunehmend Menschen ansiedeln, um vom Handel zu leben.

Der Schutz der eigenen Erzeugnisse vor Rivalen wird zunehmend wichtiger, es entsteht die Notwendigkeit Befestigungen einzurichten und die eigenen Waren gegen Übergriffe zu schützen. Zuvor musste natürlich schon das eigene Land bzw. das Hab und Gut geschützt werden. In den sich etablierenden Ortschaften übernimmt die Aufgabe des Schutzes in der Regel ein - auf welche Weise auch immer etablierter und legitimierter - Herr(scher). Es entwickeln sich Hierarchien und Abhängigkeiten, Reichtum und Armut, Macht wird ausgeübt und es wird sich ihr gebeugt. Letztlich entsteht eine Gesellschaft mit klaren Strukturen nach innen und außen. Der Horizont der Ortschaften wird nach und nach erweitert, es entsteht Handel über größere Räume und Distanzen. Tauschgeschäfte werden zunehmend durch eine Währung ersetzt usw. Ich denke die Entwicklung ist weitgehend verständlich geworden. Oft erfolgen die hier chronologisch erscheinenden Abläufe auch zeitgleich.

Die Entwicklung von Städten wird unterstützt von der Ansiedlung religiöser Einrichtungen bzw. um religiöse Einrichtungen entstehen neue Ortschaften. Ebenso entwickeln sich um strategisch wichtige Stützpunkte zur Verteidigung Siedlungen, die die Versorgung der Kämpfenden sicherstellen. Ohne Organisation ist über den Status einer Bürgerwehr hinaus keine militärische Operation möglich. Kriegsführung setzt also ebenfalls die Entstehung von Infrastruktur voraus, seien es Straßen, Handel oder Handwerk. Summa summarum: Es entsteht eine Gesellschaft, wie wir sie in den antiken Kulturen vorfinden: Bauern und Handwerker, Krieger und eine elitäre Führungsschicht unterschiedlichster Legitimation. Als Beispiele für meine hier entwickelte Theorie dienen zum Beispiel die griechischen Poleis.

Durch Interaktion untereinander entwickelt sich nach und nach ein politisches Geflecht von Bündnissen und Handelsvereinbarungen. Der Einfluß einzelner Gesellschaften auf ihre umliegenden Nachbarn wächst, es entstehen auch auf dieser Ebene Hierarchien und Abhängigkeiten, letztlich ganze Reiche mit abhängigen Provinzen. Diese wiederum werden von Städten aus verwaltet, die als Residenzstädte nun auch fiskalische und ökonomische Aufgaben auf einem neuen, komplexeren Niveau übernehmen. Nur durch ökonomische und administrative Infrastruktur und der Ausübung politischer und militärischer Macht (zu Beginn naturgemäß meistens synonym zu verstehen) gelingt die Schaffung größerer Staatswesen und Organisationsformen. Grundlage dafür sind auf nahezu allen Ebenen die städtischen Zentren, ohne deren Funktionen ein wie auch immer geartetes Staatsprojekt nicht möglich ist.

Die wichtige Rolle von Wirtschaft und Ökonomie kommt auch in der volkswirtschaftlichen wikipedia-Definition des Begriffes "Staat" deutlich zu tragen:

Als Staat bezeichnet man in der Volkswirtschaftslehre jedes hoheitlich tätige Wirtschaftssubjekt, beispielsweise eine Regierung, eine Verwaltung sowie teilweise eine Institution sui generis. Der Staat wird als Summe aller Zwangsverbände betrachtet. Staatliches Handeln im volkswirtschaftlichen Sinn umfasst demnach die Tätigkeit aller politischer Ebenen (d. h. kommunaler, regionaler und bundesstaatlicher Einrichtungen).

Der Staat wird als wirtschaftlich agierendes Subjekt unter dem Aspekt seiner Rolle und Bedeutung für eine Volkswirtschaft betrachtet. Die Volkswirtschaftslehre sieht den Staat als zentralen Träger der Wirtschaftspolitik an. Über Ordnungspolitik, Strukturpolitik und Prozesspolitik soll er die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems sicherstellen.

In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist der Staat ein Element des Wirtschaftskreislaufs. Er greift über monetäre Transaktionen in Marktabläufe ein: etwa durch Staatskäufe von Waren und Dienstleistungen als auch durch Steuern und Transferzahlungen (z. B. Subventionen). Die Steuerung dieser einzelnen Positionen (Fiskalpolitik) beeinflusst den Haushaltsplan und die Staatsverschuldung.


Mein Schluß aus dieser Argumentation: Es ist nicht möglich, ein Staatswesen ohne Städte aufzubauen und zu unterhalten. Ohne die ökonomische und administrative Unterstützung von urbanen Zentren kann ein Staatswesen keine wirkliche Macht ausüben. Diese Situation wurde besonders dann deutlich, als sich die Städte ihres Einflusses zunehmend bewusster wurden. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurde es für den König bzw. Kaiser immer wichtiger, die Städte zufrieden zu stellen und in sein Staatsgefüge zu integrieren. Ohne Unterstützung durch die wirtschaftlichen Kapazitäten der urbanen Zentren war an eine effektive Machtpolitik nicht zu denken. Städte und Stadtstaaten, vor allem in Italien (zum Beispiel Venedig oder Genua) waren trotz ihrer territorialen Nachteile über weite Phasen des späten Mittelalters stark genug, viel größere Reiche wirtschaftlich zu dominieren bzw. in Abhängigkeit zu bringen (die Kreuzzüge waren ohne ihre Unterstützung oftmals nicht möglich, ein Umstand, den sich die italienischen Hafenstädte natürlich zu Nutzen machten).

Aber ich schweife ein wenig ab, ich weiß, der Historiker ist hier wieder stärker am Werk als der Mensch. Abschließend möchte ich daher Stefans These aufgreifen, der mir natürlich direkt das Mongolische Reich als Gegenbeispiel vor die Nase gedrückt hat. Auf dem ersten Blick hat er da Recht: Die Mongolen unterwarfen mit ihrer nomadischen Art der Kriegsführung große Teile Asiens und drangen weit in den Westen vor. Dabei nahmen sie keinerlei Rücksicht auf die vorhandene Infrastruktur und lebten "aus dem Land heraus", sprich: Sie versorgten sich wie viele Kriegszüge zu allen Zeiten von dem, was der Landstrich gerade so hergab. In dem Sinne kann man schon eine geringere bis irrelevante Bedeutung von Städten erwarten, aber auch die Frage stellen, wie stabil ein solches Staatsgefüge dauerhaft wäre. Zerstörung und oben beschriebene Lebensart können nicht unendlich weitergehen. An der Peripherie wäre ein derartiges Reich immer angreifbar, die tausende von Kilometer lange Grenze ist doch schon rein logisch nicht zu verteidigen. Was also machte das Mongolische Reich dennoch zu einem derartigen Machtfaktor?

Auch hier mag wikipedia - bei aller vorgeworfenen Unwissenschaftlichkeit - helfen:

Die Mongolen nutzten die strategische Chance dieses Machtvakuums aus und verbanden alle diese Regionen dank erdrückender mongolischer Kriegführung zu einer Art Staatenverband mit politischen wie wirtschaftlichen Interessen. Sie waren vom Handel mit den städtisch siedelnden Völkern vollständig abhängig. Als Nomaden waren sie kaum in der Lage, Vorräte anzulegen oder das Handwerk zu fördern, um technische Erzeugnisse zu produzieren.

Man unterstellt, Dschingis Khans Ziel sei nicht die Unterwerfung der benachbarten Kulturen unter die nomadische Lebensweise gewesen, sondern ihre Zerstörung. Der Herrscher der Nomaden habe angeblich die Vorteile städtischer Lebensweise nicht verstanden. In Wirklichkeit wurde er sich der Bedeutung des wirtschaftlichen Zusammenhangs mit diesen Völkern im Laufe der Zeit sehr wohl bewusst.

Im Laufe weniger Jahrzehnte begriffen die Mongolen unter Yelü Chucai und Sorghaghtani Beki (siehe „Staatsphilosophie“ unten), welche Bedeutsamkeit im Beibehalten des Status Quo liegt. Ihre Fürsten versuchten nun auch im Interesse der sesshaften Bevölkerung zu handeln, auch wenn das nicht zu jeder Zeit gelang.

Wenn den städtischen Völkern erlaubt wurde, ihre Lebensweise fortzusetzen (so sehr diese dem Khan auch fremd erschienen sein mochte), konnten sie einen Überschuss der Nahrung und der Waren produzieren, deren Teil als Steuern an den Khan zu zahlen war. Dies verhieß der aggressiven Politik des Khans einen außerordentlichen ökonomischen Erfolg. Dschingis Khans Nachfolger Ugedai Khan willigte um 1234 ein, seinen Tribut in eine Steuer umzuwandeln; auf diese Weise wurden zahllose Leben und ganze Kulturen gerettet.

Dschingis Khan hatte ursprünglich nicht die Absicht, ein Weltreich zu errichten. Jeder seiner Eroberungen ging eine besondere Erörterung der sich entwickelnden politischen Lage und der ökonomischen Vorteile voraus. Ein Beispiel ist die Eroberung der nordchinesischen Hauptstadt Peking 1215. Er schlug nach der Eroberung der Hauptstadt die Chance aus, die Erweiterung auf ganz Nordchina auszudehnen und kehrte nach seinem Sieg einfach nach Hause zur Steppe zurück. Der Krieg gegen das Choresmische Reich 1219–21 begann aufgrund von Handelstreitigkeiten.

Man sieht also, das selbst das Mongolische Reich auf Handel und Wirtschaft, sprich: auf städtische Zentren angewiesen war, um seine Expansionspolitik auszuüben. Auf der Suche nach einem weiteren Gegenbeispiel bin ich nun auf eure Hilfe angewiesen, denn mir fällt gerade keines ein. Die Wikinger wären vielleicht eine Variante, doch deren Einfälle in England und Frankreich waren vor allem ökonomisch begründet und endeten mittelfristig immer in Landnahme und Übernahme der Vorteile städtischer Lebensweise (Wikinger = Nordmänner = Normannen = Normandie). Ich werde noch etwas weiter grübeln, aber ich habe ja auch noch euch: Grübelt doch einfach mal mit!

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